Vom unverzichtbaren zweiten Buch
Ein Beitrag von Nicolas Gattlen in Horizonte, Das Schweizer Forschungsmagazin, 131, Dezember 2021, kritisch gelesen und kommentiert
Die Zeitschrift Horizonte1 widmet ihre Dezemberausgabe dem wissenschaftlichen Publizieren und hält fest: Wer seine Forschung nicht veröffentlicht existiert nicht […] und möglichst viel und rasch zu publizieren ist in der Wissenschaft heute das Mass aller Dinge […]. Kurz und brutal: Publish or perish!
Während sich die Naturwissenschaften mit peer-reviewten Open-access Fachartikeln und hohem Impact-Faktor mächtigen Plattformen herumschlagen müssen, bietet sich den Geistes- und Sozialwissenschaften eine breitere und «humanere» Palette an Publikationsformen.
Nahezu unverzichtbar für eine akademische Karriere sei, so Svenjy Goltermann, Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, das sogenannte zweite Buch. Gemeint ist die Monografie, die auf die Dissertation folgt. Obschon es in diversen Disziplinen einen Trend zu kumulativen Dissertationen gebe, also einer Zusammenstellung mehrerer inhaltlich zusammengehöriger Aufsätze, sei die Monografie für Geschichtswissenschaften auch in Zukunft unentbehrlich. Denn manche Argumente lassen sich nur im Buchformat ausführen.
Zu diesen Argumenten gehört wohl auch, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht nur der Fachwelt vorenthalten sein sollen, sondern auch öffentlich vorgestellt werden, um möglichst alle Leser zu erreichen, die an geschichtlichen Zusammenhängen teilhaben wollen. Eigentlich ist das die Grundidee von Open-access, Open Research Data, Wissenschaft für alle oder für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Aber mit digitalen Medien allein ist es eben eine Krux: man findet in der Regel nur das was man sucht. Bei analogen Medien findet man auch, was man nicht gesucht hat. Jeder der in einer traditionellen Bibliothek oder in einer Buchhandlung seine Bücher selbst in den Regalen sucht, macht diese Erfahrung.
Was für die Kommunikation der Naturwissenschaften gelten mag, ist in der Tat bei den Geisteswissenschaften schwer umsetzbar.
Der markige Spruch sei sichtbar oder verschwinde, muss unweigerlich zu Quantität führen, die Qualität der publizierten Arbeiten leidet, trotz Peer-review. Einerseits und nicht selten, weil viele Arbeiten visuell unprofessionell aufbereitet sind und den Leser eher abschrecken als zum Verweilen einladen. Andererseits, weil eine professionelle und auf die Publikation individuell ausgerichtete Verlagsbegleitung und fördernde Kommunikation innerhalb und ausserhalb der Fachwelt fehlt. Aspekte, die vermutlich dazu führen, dass heute geisteswissenschaftliche, insbesondere geschichtswissenschaftliche Publikationen mehr gelesen werden als naturwissenschaftliche Arbeiten. Die Frage bleibt offen, womit man nun sichtbarer ist, oder in der Masse verschwindet …
Dominique-Charles R. Oppler
Verleger & Herausgeber
1)Nicolas Gattlen, Wer zuerst veröffentlicht, hat gewonnen von Nicolas Gattlen, in Horizonte, Das Schweizer Forschungsmagazin, 131, Dezember 2021
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